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«Es war einmal …»
Der Tänzer und Choreograf Nicolas Turicchia bewegt sich zwischen dem Val de Bagnes und Paris. Er ist wahrhaft eine Frohnatur, ausgestattet mit einer gesunden Neugier und einer starken Begeisterungsfähigkeit. Mit ebendieser Begeisterung erzählt er uns die Geschichte oder besser gesagt «das sagenhafte Märchen» davon, wie er zum Tanz kam. Wie Sie in den nachfolgenden Zeilen erfahren werden, ist der Lebensweg von Nicolas kein gewöhnlicher.
Die Geschichte beginnt folgendermassen: Es war einmal ein 21 Jahre junger Mann, der stand am Anfang seines Lebensweges. Auf diesem Weg gab es ein «Vor» und ein «Zurück» aber dennoch fühlte er sich etwas desorientiert und verloren, ohne Diplome und ohne Ausbildung im Sack. In seiner Verzweiflung setzt er sich am Wegrand nieder und wartet auf eine Bestimmung. In der Zwischenzeit entscheidet er sich dazu, nicht viel an seiner Lage zu ändern und einfach abzuwarten. Er angelt sich von Job zu Job. Ein Winter als Skilehrer hier, ein Sommer als Stallbursche da. Der junge Mann ist nicht von grosser Statur. Sein Gesicht hat einen gutmütigen Ausdruck und sein Blick verrät eine gute Dosis an Humor, Schläue und Kreativität. Irgendwie erinnert er an den Regisseur und Komiker Mathieu Kassovitz, - wohl eher ein Kompliment, meinen Sie nicht?
Eines Abends des Jahres 1991 begleitet Nicolas Turicchia eine Bekannte nach Lausanne zu einer Tanzaufführung. Zu diesem Zeitpunkt verstand Nicolas so wenig vom Tanz, wie ein Walliser Weinbauer von der Schifffahrt. Das Spektakel von Maurice Béjart zeigt «Boléro» getanzt von Jorge Donn, den die meisten von Ihnen wohl vom Film «Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen» von Claude Lelouche kennen. Und als Nicolas da auf diesem gepolsterten Sitz des Konzertsaals sitzt, trifft es ihn wie der Blitz. Er hat seine Bestimmung gefunden, - oder besser gesagt, sie hat ihn gefunden. Nicolas wird klar, - er möchte Tänzer werden! Gleich am nächsten Tag schreibt sich Nicolas am Konservatorium in Sitten als Tänzer ein. In Sachen Alter war er seinen Mitschülerinnen souverän überlegen. Beim Tanzen jedoch waren sie ihm weit voraus. Die Vorstellung von Nicolas in seinen ersten Tanzschritten umringt von Mädchen in Tutus bewegt einen zum Schmunzeln, doch für Nicolas war die Angelegenheit sehr ernst. Denn er war sich sicher: «Ich will ein professioneller Tänzer werden».
Ein letzter zweifelnder Gedanke dreht sich jedoch in Endlosschleife in Nicolas Kopf: «Kann ich mein Ziel als 21-jähriger Tänzer mit sechsmonatiger Erfahrung im klassischen Tanz überhaupt noch realisieren»? Seine Lehrerin beruhigt und ermutigt ihn. «Es gibt eine Tanzschule, die auch ältere Schüler akzeptiert. Melde dich an der Tanzschule Ecole de Danse Cannes-Mougins». Und das machte er dann auch. In voller Begeisterung schnappte sich Nicolas Turicchia ein Zugticket am Bahnhof in Sion und raste nach Cannes zum Vortanzen. Keine geringere als Rosella Hightower, ehemalige Primaballerina, nimmt Nicolas mit folgenden Worten in die Schule auf: «Du hast keinen ausserordentlich beweglichen Körper, aber du hast einen schönen Beinschlag und ich sehe bei dir viel Begeisterung und das ist das Wichtigste beim Tanzen. Willkommen in der Tanzschule». Wie Sie sehen, fängt die unglaubliche Geschichte des Tänzers und Choreografen Nicolas Turicchia genau so an, wie in einem Märchen. Seine Begeisterung wird belohnt.
Nach vier Jahren Ausbildung in Cannes, Rotterdam und wohlgemerkt in Brüssel bei Anne Theresa de Keersmaker, DER Frau des zeitgenössischen Tanzes, erhält Nicolas einen Vertrag in Deutschland beim «Folkwang Tanz Studio», das von Pina Bausch geleitet wird. Weitere Projekte folgen: «Vincente Saez dance company» in Valenzia, «Tanztheater Verena Weiss» in Luzern, und Engagements von den Choregrafen Roméo Castellucci und Cindy Van Acker. Trotz all diesen hochkarätigen Jobs verspürt Nicolas immer noch eine bleibende Unzufriedenheit. Also sagt er sich: «Nicolas, wenn du nicht mit den Aufträgen zufrieden bist, die man dir anbietet, dann mach deine eigenen Projekte». Einfacher zu sagen, als zu machen!
Aber erneut geht die Geschichte ihren eigenen Weg, magisch wie ein Märchen. Nicolas Turicchia, erhält ein Stipendium vom Staat Wallis, das ihn nach Paris bringt, sagenumwobene, rauschende Stadt der Lichter, die ihn leitet und inspiriert. Seither überschlagen sich seine Realisationen: «Circondanse», «Parision», «Dans’humance», «Valaisan danse par nature» oder «Pourquoi ne sais-tu pas marcher dans la neige» ? Diese Werke setzt er an der Seite seines Vaters um. Ein wahrhaft magisches Duo.
Jedes Jahr fährt Nicolas in die Toskana, Heimatland seiner Grosseltern. Dort geniesst er Sonne, Meer und Pasta. Er liebt Italien. Doch sein Hafen, - seine hauptsächliche Inspirationsquelle ist Paris. Dort findet er eine Stadt voller Spontanität, Licht und Freiheit. Er lässt sich vom Wind tragen und fliegt auf einem seiner fünf Fahrräder von einem Konzertsaal zum nächsten.
Was lernen wir aus der Geschichte? Es ist offensichtlich, dass es schwierig ist, von der Kunst zu leben, doch mit genügend Begeisterung gibt es keine Grenzen. So wie die Begeisterung von Nicolas floriert, so spriesst auch seine Karriere. Wahrlich ein Märchen! Die Projekte folgen eins nach dem anderen. Seine Förderanträge werden genehmigt. Heute begeistert sich der Choreograf vor allem am Menschen im Kontext des Universums, am universellen Antirassismus und an der grossen Vielfalt menschlicher Lebensgeschichten. Den Weg verlassen, das Alltägliche überwinden, etwas Neues erschaffen, Zuschauer involvieren, Kunstsparten vermischen, das sind Inspirationsquellen für Nicolas Turicchia. «Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen und zu erschaffen. Momentan könnte man sagen, dass ich von der Linie zur Kurve wechsle. Für mich ist die Linie ein Zeichen für starre Wege und vorgebaute Strassen während Kreise für mich die Kindheit oder die Freiheit symbolisieren».
Wie Martha Graham sagte: «Die grossen Tänzer sind nicht gross wegen ihrer Technik, sie sind gross wegen ihrer Begeisterung». Es scheint so, als ob sich Nicolas Turicchia von diesem Motto eine dicke Scheibe abgeschnitten hat.
Erschienen: 1. July2019
Text (FR) : Sophie Michaud
Fotos : ©Olivier Lovey